JugendraumSagen

Visperterminen

Der Lindwurm

Einst lebte oberhalb von Visperterminen ein grosser Lindwurm, den die Leute fürchteten. Sein langer Schwanz war baumdick und aus seinem Hornpanzer ragten zwei zusammengefaltete Fledermausfügel hervor.  Er lag in seinem Nest und lauerte seiner Beute. Erblickte er irgendwo ein Lebewesen, schoss sein Echsenkopf hervor und er beobachtete mit seinen mannsgrossen Augen sein Opfer. Das letzte Stündlein des Opfers hatte geschlagen, egal ob es ein Schaf, eine Ziege, eine Kuh oder ein Mensch war, alle waren wie betäubt von dem Zauber in seinen Augen oder von dem Hauch seiner Nase. Wenn aber das Opfer sich dem Drachen näherte, öffnete er seinen Rachen und verschlang es.  Dieser Drache war eine furchtbare Plage für alle Dorfbewohner und niemand hatte eine Idee, wie man das Ungeheuer loswerden könnte. Dann geschah folgendes: Im Nanztal erschlug ein Mann eines Tages im Streit seinen Nachbarn. Das Gericht von Naters verurteilte den Mann zum Tode. Die Bevölkerung bat jedoch den Richter, man solle den Verurteilten freisprechen, wenn es ihm gelänge, den Lindwurm zu töten. Das Gericht ging auf den Vorschlag ein.

Der Mann fertigte sich ein Lederkleid mit eingearbeiteten Spiessen und Sensenspitzen. Er nahm in beide Hände ein scharfes Messer. So ausgerüstet machte er sich auf den Weg, um den Drachen zu töten. Als er die grossen Drachenaugen sah, lief er betäubt auf sie zu und da verschlang er den Verbrecher. Doch die Spiesse und Sensenspitzen drangen in die Wände der Speiseröhre des Drachen ein und durchstachen diese sogar. Blut spritzte aus dem Mund des Ungeheuers und in seinen entsetzlichen Schmerzen flog der Drache über das Nanztal und lies sich auf der gegenüberliegenden Talseite nieder und starb. Der Mann befreite sich mit seinen Messern aus dem Dracheninneren, dankte Gott  und war frei.  Die Spuren des Drachen sind aber bis heute an einem schlangenförmigen Wall im Nanztal noch zu sehen. Das einstige Nest des Drachen ist heute ein friedlicher Bergsee, und man würde nicht glauben, das hier einst ein Ungeheuer gehaust hatte.

Sarah Heinzmann

Aus dem Buch ‚Visperterminen‘ von German Studer- Freuler
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