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[Auf Walserspuren]

Von Saas Almagell nach Zermatt

Dr. Max Waibel: Kulturgeschichtliche Splitter und persönliche Erinnerungen

Ich werde Sie mit einigen kulturgeschichtlichen Splittern und ein paar Bildern vertraut machen, die meist aus einer Zeit stammen, da eine Wanderung über mehrere Bergketten hinweg noch ein kleines Abenteuer war. Oft endete es nach Querung von Schneefeldern und Gletschern mit nassen Füssen. Es gab damals weder einen markierten «Grande Sentiero Walser» (GSW) bzw. «Grossen Walserweg», noch eine «Tour Monte Rosa» (TMR), kein Handy und kein GPS — und noch wussten die meisten deutschsprechenden Bewohner der Monte Rosa-Südtäler nicht, dass sie im Laufe der 1970er Jahre von von tedesci zu Walsern werden sollten.

Meinen ersten Gang über den Monte Moro unternahm ich im Sommer 1970. In Saas Almagell deckte ich mich mit Lebensmitteln ein und brach mit etwa 20 Kilogramm im Rucksack noch bei Dunkelheit an einem Freitagmorgen in Richtung Mattmark auf. Hinter dem Stausee, den man beidseitig «umrunden» kann, steigt der Weg an zum Tälliboden  und weiter zum Monte Moropass, an dessen Südseite das im Winter 1997 zerstörte und neu aufgebaute Rifugio Caspare Oberto (2785 m ü. M.), zur Rast einlädt.

Als Variante zum steilen und geröllreichen Abstieg nach Macugnaga bietet sich die Fahrt mit der Seibahn an. Doch sollte man an der Zwischenstation Alpe Bill aussteigen, um von dort auf dem schönen alten Maultierpfad in die Talsohle zu wandern.

VS, 10. 9. 12

Macugnaga/Makana

Als ich damals, eben 1970, im hintersten Anzascatal bei der alten Kirche von Macugnaga ankam, weidete dort Guido Lanti, zwei braune Kühe — «La bella bruna svizzera!», meinte er stolz. Doch einer davon fehlte leider ein Horn. Wohl deshalb, weil die Ställe immer gleich klein blieben, die Kühe aber immer grösser wurden...

1842 schrieb der deutscher Forscher Albert Schott: die alte Linde werde bald sterben, die deutsche Mundart aber längerfristig überleben. Das Gegenteil trat ein:

Die Mundart starb, die Linde überlebte. Die Sage weiss, dass eine Saaserin diesen Baum vor langer, langer Zeit als Zweiglein über den Saaserbiärg (Monte Moro) mitgebracht hat. —

Ein Muss ist ein Rundgang durch den schönen stillen Friedhof. Er erzählt Geschichten von waghalsigen und verunglückten Bergführern und Bergsteigern, von lokalen Grössen und den einfachen Leuten.    

Tatsächlich erhielt Macugnaga wd. Makana (900-1400 m ü. M.) seine deutschsprachigen Siedler im 13. Jahrhundert über den Monte Moropass. Von 1250 stammt eine Urkunde über Alpstreitigkeiten, bei denen Brandtiftung, Viehraub und Totschlag zum Alltag gehörten. Deshalb drohte Graf Gottfried v. Biandrate damit, Leute aus dem Anzascatal in seine Besitzungen im Saastal zu verpflanzen, um den Frieden zwischen beiden Bevölkerungsgruppen zu sichern. Ob solche Umsiedlungen je stattgefunden haben, wissen wir nicht.

1291 sind in einem Schiedsvertrag erstmals die «communis et homines de Macugnaga» genannt. Bis in die «Kleine Eiszeit» hinein, die um 1400 begann und bis 1850 dauerte, spielte der Saumweg über den Monte Moropass eine wichtige Rolle. Darum hatte Macugnaga bis ins 17. Jahrhundert auch einen Markt bei der alten Kirche.

Im Jahre 1550 erschienen im Anzascatal Kommissäre der Mailänder Regierung. Sie hatten abzuklären, ob die Bevölkerung tatsächlich nicht in der Lage sei, die monatlich geforderte Sondersteuer, den «Mensuale» zu entrichten. Die Berichte dieser Beobachter sowie die Abhandlung eines ebenfalls von der Mailänder Regierung im Jahre 1651 ins Anzascatal geschickten Berichterstatters gewähren Einblick in das entbehrungsreiche Leben der Bevölkerung von Macugnaga im 16. und 17. Jahrhundert:

«Drei Monate verbringt man ohne Sonnenlicht. Schnee und Wasser verwüsten immer wieder Felder und Häuser. Das Land ist so unfruchtbar, dass ausser wilden Kirschen, die, falls überhaupt, erst im August reif werden, keine geniessbaren Baumfrüchte wachsen. Der Roggen wird im August gesät und kann im August des folgenden Jahres, oft aber erst im September, geerntet werden. Es kommt vor, dass der Roggen wegen des schlechten Wetters gar nicht reift. Brot bäckt man zu Weihnachten und verbraucht es im Laufe des kommenden Jahres. Mit dem von den Matten geernteten Heu werden einige Tiere zur Selbstversorgung gehalten. Es gibt weder Karren noch Zugtiere. Die wirtschaftlichen Erträgnisse reichen nicht aus, um die Bevölkerung auch nur drei Monate im Jahr zu ernähren. Die Männer ziehen deshalb in die Welt hinaus, um die Daheimgebliebenen zu unterstützen. In Macugnaga trifft man nur alte Männer und Frauen; an Feiertagen besuchen über 200 Frauen, aber nur 15 bis 20 alte Männer die Messe. Die Einheimischen sprechen Deutsch, bauen Häuser nach deutscher Sitte aus Holz und kleiden sich nach Art der Deutschen. Mit den benachbarten Wallisern steht man in Verkehr, und viele Leute diesseits des Monte Moro sind mit Wallisern verschwägert und verwandt.»

Neben vielen im 18. und 19. Jahrhundert zugewanderten Italienern und Tirolern arbeiteten einheimische Männer auch in den bereits 1291 genannten Goldbergwerken von Pestarena.

Heute ist das aus mehreren Ortsteilen bestehende, einst bergbäuerliche Macugnaga eine beliebte Feriendestination, die mit schöner Architektur und der Monte Rosa Ostwand als Blickfang aufwartet. 

VS, 10. 9. 12

 

Von Macugnaga nach Alagna

Es war kurz nach Mittag, als ich mich von Guido Lanti und seinen beide Kühen verabschiedete, um über den Passo del Turlo, wd. ts Tirli nach Alagna, wd. Im Lann  zu ziehen. Auf dem Dorfplatz von Staffa wd. In d’ Stapfu traf ich zufällig auf Ing. Augusto Pala, Architekt und Bergsteiger, und zu jener Zeit auch Bürgermeister von Macugnaga.

4–5 Stunden müsse ich wohl rechnen bis Alagna, meinte er, und ich zog gläubig und guter Dinge weiter...

Nach rund einer Stunde stand ich am Lago delle Fate (1310 m ü. M.) am Eingang in die Valle Quarazza wd. Kratz. Weil es damals am Weg zum Turlopass noch kein Bivaco Lanti gab, und ich abschätzen konnte, dass aus den mir angegebenen 4–5 Stunden nichts werden konnte, übernachtete ich in einer Alphütte über dem Schweinestall. Das nächtliche Gegrunze vermischte sich mit Donner und Blitz und dem Tosen eines Wasserfalles, in welchem – das erfuhr ich erst später – das Zubuwiibj, eine mit Geschirren klappernde Milchpantscherin, für ihre Untaten büsste. Am frühen Morgen, das Gewitter hatte sich verzogen und die Sterne funkelten noch, nahm ich die unzähligen Kehren des vom Militär ausgebauten Saumpfades auf den Turlopass in Angriff. Die Gedenktafel auf der Passhöhe, die an das Walsertreffen hier oben vom 30. August 1970 erinnert, gab es bei meiner ersten Wanderung nach Alagna noch nicht.

VS, 10. 9. 12

Alagna / Im Lann

Schon um 1300 waren Walser im obersten Sesiatal auf dem Gebiet von Pietre Gemelle (= Zwillingssteine), zu deutsch Presmell sesshaft. Presmell bestand aus dem heutigen Alagna, wd. Im Lann dem etwas talauswärts gelegenen Riva und dem Val Vogna. Alagna ist Tochtersiedlung Macugnagas. Eine Urkunde aus dem Jahre 1319 sagt, dass den Söhnen des Enrico von Labenorca di Macugnaga ein Teil des Landgutes auf dem Dosso dei Larici übertragen wurde.

Mit dem Colle del Turlo wd. ts Tirli hatten die Leute von Macugnaga eine direkte Verbindung ins Sesiatal.

Die Siedler aus Macugnaga dürften in Alagna schon auf Leute aus Gressoney gestossen sein, die von Westen her über den Col d’Olen und den etwas südlicher gelegenen Valdobbia-Pass nach Alagna gelangt waren. 

Die Landwirtschaft im obersten Sesiatal warf nicht genug ab für alle. Die Männer zogen deshalb schon früh nach Norden. In der Schweiz, in Süddeutschland, im Elsass und in Lothringen schufen die Presmeller Bauhandwerker und Architekten bedeutende spätgotische Kunstdenkmäler.

Solche sind etwa die Kirche von Raron (1508–1517) von Ulrich Ruffiner, bekannt vor allem wegen des Grabes des Dichters Rainer Maria Rilke (1875–1926) oder das Rathaus von Luzern, erbaut 1602-1606, von Anton Isenmann aus Presmell.

Bis 1707 arbeiteten die Alagneser Emigranten traditionsgemäss in deutschsprachigen Ländern als Steinhauer, Gipser und Maurer. Jetzt aber, da Alagna zum Herrschaftsbereich der Savoyer gehörte, versuchte die neue Regierung, die Auswanderer nach Savoyen und Frankreich umzulenken. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zählte man in Alagna rund 700 Einwohner.

Davon waren 140 Männer den Sommer über abwesend. Einige Emigranten gründeten kleine Firmen in der Schweiz und in Frankreich. Dort konnten junge Alagneser eine Lehrstelle antreten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging die Tradition der saisonalen Auswanderung zu Ende.

Aber Alagna war nicht nur ein Ort der Abwanderung. Mit der Eröffnung der Goldminen im 16. Jahrhunderts zogen Bergwerksarbeiter wd. Erzlit nach Alagna.

Der politische Wechsel von 1707 wirkte sich in Alagna nicht nur auf die Auswanderung, sondern auch auf die Einwanderung aus, denn der Staat förderte den Bergbau. In der ersten Hälfte der 18. Jahrhunderts kamen sächsische Bergleute; nach 1750 setzte eine massive Einwanderung von piemontesischen Bergleuten aus dem Canavese ein. Diese liessen sich als geschlossene Gemeinschaft in den zentralen Fraktionen nieder, wodurch sich die ethnische Zusammensetzung dort einschneidend veränderte. Mit dem Rückgang und der Aufgabe der Bergbauindustrie nahm die Einwanderung wieder ab. Die zurückgebliebenen Bergleute integrierten sich nur langsam (sprachlich überhaupt nicht) und mit fortschreitender Italianisierung wurden Ehen zwischen den Nachkommen der Bergleute und Einheimischen häufig. In den umliegenden Weilern aber vermochte sich das walserische Element noch bis weit ins 20. Jahrhundert zu erhalten.           

Zurück auf die Wanderung. Nachdem ich die Sohle des hintersten Sesiatales erreicht hatte, ging ich – es war ein sonniger Spätnachmittag – auf der Strasse der Zentrumssiedlung zu. 

Am Fusse des linken Hanges zog ein eng verschachtelter Weiler meine Aufmerksamkeit auf sich. Er heisst Ronco, die Deutschsprechenden nannten ihn Im Rongg.

Wenig später stand ich in einer engen Gassen zwischen den Holzhäusern. Eine zierliche kleine Frau mit einem riesigen geflochtenen Tragkorb voll Heu am Rücken kam mir entgegen. Weil wir einander kaum ausweichen konnten, kamen wir ins Gespräch. Sie hiess Maria, und war verheiratet mit dem 1901 in Bern geborenen Antonio Ghiger. Ich lernte ihn wenige Augenblicke später auf der mit Lattenwerk umgebenen Laube kennen. Maria deckte den abklappbaren Tisch und trug Brot, Käse, Wurst und eine Flasche Rotwein auf.

Doch solle ich, so riet sie mir, noch einen Augenblick warten, denn gleich käme ihre Tochter mit frischem Brot für den Sonntag aus dem Lann zurück... Wir redeten bis tief in die Nacht – und statt wie vorgesehen – erwachte ich nicht im Gasthof Monte Rosa, sondern in einem riesigen Bett in einer der 4 quadratischen Schlafkammern im ersten Stock des Hauses von Antonio und Maria Ghiger... Nach einer Tasse Kaffee und einer Scheibe des Sonntagsbrotes machte ich mich wieder auf den Weg.

Um 1970 hatte Alagna 460 Einwohner, davon sprächen rund 100 den deutschen Dialekt, erfuhr ich im Gemeindebüro.

Der 1890 verstorbene einheimische Arzt Giovanni Giordani schildert im Buch La Colonia Tedesca di Alagna-Valsesia e il suo dialetto, wie es um die deutsche Sprache und Kultur im 19. Jahrhundert stand: Bis in die ersten Jahrzehnte hinein habe sich das Deutsche gut gehalten. Schule, Predigt und religiöse Unterweisung waren deutsch. Die Pfarrherren waren Einheimische; alle Familien hatten deutsche Bücher. Aus der Schweiz importierte deutsche Poesie und Lieder seien gesammelt und von der Jugend gelesen, studiert und rezitiert worden. Im Winter wurden im Freien deutschsprachige Theater aufgeführt. Die Einheimischen heirateten nur unter sich. Jetzt aber sei alles anders. Das Deutsche sei praktisch aufgegeben worden, das Italienische habe Schule und Kirche erobert. Das Deutsche suche eine letzte Nische im Kreis der Familie. — Soweit Giordani.

1913 berichtete der deutsche Sprachforscher Karl Bohnenberger, dass unter den 632 Einwohnern noch 442 Deutschsprechende lebten. Heute, 99 Jahre später, sind es bestenfalls noch 10...

Auch das althergebrachte Erzählgut ist heute erloschen. Man weiss gerade noch, dass im Wilte Mandjis Louch, im Oltertal, ein merkwürdiger Geselle gehaust haben soll.

Ich habe bereits auf das Lattenwerk an den Lauben der Häuser hingewiesen. Dieses dienten dem Nachtrocknen von Heu und Getreide.

VS, 10. 9. 12

Von Alagna nach Gressoney / Greschonei

Verschiedene Übergänge führen von Alagna nach Gessoney wd. Greschonei. Der bekannteste ist der Col d’Olen (2881 m ü. M.). Zu Fuss ist er auf zwei Wegen erreichbar: der eine führt von Alagna am Rifugio Grande Halte und dem Sasso del Diavolo (= Teufelsstein) vorbei. Von Letzterem erzählt die Sage: Der Teufel wollte mit diesem Stein den Bau der Kirche von Gressoney verhindern. Im Olengufer, kurz vor der Passhöhe, lud er sich den grössten Steinblock, den er finden konnte, auf den Rücken.

Er wollte damit auf das Olenhorn und den Stein von dort auf die Kirche von Gressoney rollen lassen. Der Teufel wurde müde und musste auf halbem Weg rasten rasten. Als er den Block wieder auf den Rücken nehmen wollte, war er zu schwer. Wütend schlug er mit der Faust darauf und brüllte: Prebret! (= Teufel) und der Felsblock war gespalten. Im gleichen Augenblick gab es einen schwarzen Rauch und ds laid Mandji verschwand. Der Spalt im Stein aber ist heute noch zu sehen.

Eine lohnende Variante führt von Alagna ins autofreie Oltertal mit mehreren hübschen Kleinsiedlungen und weiter über den Foricpass (2432 m ü. M.) zum Teufelsstein und zum Col d’Olen.

Als ich 1970 vom Col d’Olen, den ich vom Rifugio Grande Halte aus erreicht hatte, in Richtung Gressoney abstieg, kam mir ein See ins Blickfeld: Der Lago Gabiet. Den steuerte ich an und dort lernte ich die hübsche Gressoneyer Lehrerin Alys Barell kennen, die den Sommer über Wirtin war am See und als Hüterin des Gressoneyer Kulturgutes in die Lokalgeschichte einging.

Viel, viel später, als ich bei einem Gressoneyer Freund noch immer von Alys mit dem Silberstreifen im Haar schwärmte, meinte der: «Pass auf! Die hat auch Haare auf den Zähnen!» So genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen.  

Die Schatten waren schon lang, als ich im Sommer 1970 bei Alys aufbrach, um den Abstieg nach Tschaval in Angriff zu nehmen. In einer Hütte nicht weit von der Alpe Moos schlug ich in mein Nachtlager auf und wanderte am folgenden Morgen vorbei am Hof Tschafal in die Talsohle

Im Tal angekommen, stellte sich mir die Frage: Wie weiter?

Über die Bettaforca –  oder weiter talauswärts über den Pinterpass – ins Val d’Ayas? Ich entschied mich für einen Besuch von Gressoney mit anschliessender Begehung des Pinter Passes.

Exkurs ins Jahr 1998

Heinrich Welf, ein lebhafter Gressoney-Luzerner, war Präsident des Komitees, welches 1998 das grosse Walsertreffen in Gressoney vorbereitete, zu dem rund 2000 Gäste aus allen Walsergebieten erwartet wurden. Meine Frau und ich hatten Heiri unsere Mithilfe bei den Vorbereitungen zugesagt. Wie vereinbart, erschienen wir am Mittwoch Nachmittag in der Casa Margherita in Gressoney St-Jean.

Heiris Stärke war nicht unbedingt das Zuweisen präziser Aufträge. Deshalb wurde er von seinen Helferinnen immer wieder um Rat angegangen:

«Presidente, Presidente...»: Einmal platzte ihm der Kragen und er sagte: «Hered jetz uf met däm sautumme President!» — «Aber wer sagt uns dann, was wir tun sollen?» meldete sich eine Stimme.

Wir werfen jetzt einen Blick in die Geschichte des vermutlich im frühen 13. Jahrhundert von Wallisern via Theodulpass und Ayastal besiedelten Gressoney. Zwei Dinge spielten eine ganz wichtige Rolle:

  • Die Krämer und
  • die italienische Königin Margherita von Savoyen.

 Die Krämer bereisten anfänglich mit einem hölzernen Kaufladen auf dem Rücken die deutschsprachige Schweiz und Süddeutschland. Zu ihrem Sortiment gehörten Hüte, Handschuhe, Stoffe, Schürzen, Seidentücher, Strümpfe, Heiligenbilder, Spielkarten, Schmuck, Glas und anderes mehr. Allmählich vertauschten sie den hölzernen Verkaufsladen mit dem vornehmeren Lederkofer und schränkten den Handel auf Kleiderstoffe für Erwachsene und Kinder ein. Ihre Musterkollektionen präsentierten sie gerne in Gasthäusern; die Verarbeitung zu fertigen Kleidern überliessen sie zuverlässigen Massschneidern, wenn sie solche nicht in den von ihnen gegründeten Firmen beschäftigten. Aus Gressoney stammten auch die Lehrlinge, die zu Stoff-Reisenden ausgebildet wurden. Während Jahrhunderten wurde den Gressoneyer Krämern das Leben nördlich der Alpen von Behörden und Konkurrenten nicht leicht gemacht. Sie hatten vor allem in früheren Jahrhunderten allerhand Schickanen und Diskriminierungen zu ertragen. Aber zwei ganz andere Dinge brachte den erfolgreichen Stoffhandel um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Erliegen: Die Konkurrenz der Warenhäuser und die Umstellung auf die billige Massenproduktion.

Ein Wesenszug, der die Gressoneyer Krämer auszeichnete, war die Liebe zur Heimat. Sie statteten diese nicht nur mit ansehnlichen Häusern aus, sondern sorgten auch für die Verbreitung der im deutschsprachigen Ausland erworbenen geistigen Kultur. —

Ein Wort zur Königin Margherita. Sie war die Tochter Ferdinands von Savoyen und der Elisabeth von Saxen. Von 1889 bis 1925 verbrachte die deutschsprechende, beliebte Königin regelmässig zwei Monate im Sommer in Gressoney. Zuerst wohnte sie in der Villa des Barons Luigi Beck-Peccoz, heute Villa Margherita, in Gressoney St-Jean, 1904 bezog sie das in ihrem Auftrag erbaute Castel Savoia. Das blieb natürlich nicht ohne Auswirkung auf den Tourismus... 

VS, 10. 9. 12

Von Gressoney ins Val d'Ayas

Wir sind zurück im Jahr 1970. Durch verschiedene Weiler zog ich von Gressoney St-Jean wd. Seng Schang wieder talaufwärts. Unmittelbar vor Gressoney Trinité oder Drifaltigkeit schlug ich den Weg über Ligg (= klein) Albezu und Gross Albezu (1780 m ü. M.) zum Pinterpass (2777 m ü. M.) ein.  Von diesem Tor zum Valle di Cunéaz im oberen Ayas wurde mein Blick auf den die Landschaft dominierenden Mont Blanc (4810 m ü. M.) gelenkt.

Nach einem zuerst steilen Abstieg wanderte ich dem Weiler Cunéaz (2032 m ü. M.) zu, wo in den 1920er Jahren die rasch fortschreitende Entvölkerung einsetzte. Gegen 1960 war Cunéaz als Dauersiedlung aufgegeben, was einerseits mit der fehlenden Anbindung an den Verkehr, andererseits mit dem Aufkommen neuer Lebensformen im Val d’Ayas zusammenhing. Heute führt ein Fahrweg nach Cunéaz.

Auf dem Weg von Cunéaz über Resy nach St-Jacques begleitete mich in den Jahren 2003  und 2012 jeweils im August meine Frau. Oft nahm sie eine Veränderung wahr, dann stach mir wieder eine Neuerung am Wegrand ins Auge.

In rund 15 Min. erreicht man von Cunéaz aus den Weiler Crest (1935 m ü. M.) an der gleichnamigen Station der Gondelbahn von Champoluc.

 Bei Crest schlug ich den Weg in Richtung Soussun (1950 m ü. M.) und Resy (2072 m ü. M.) ein.

 Die Dauersiedlung Soussun wurde als solche um 1930 aufgegeben. Sie dürfte ihren Namen dem deutschen Wort «Salzen» (Salzlecke?) und damit den Walsern verdanken.

Auch Soussun ist heute auf einer Fahrstrasse erreichbar, und der Grosse Walserweg Richtung Resy und St-Jacques führt ein ordentliches Stück über Schotterstrasse und Skipiste abwärts zur Alpe Charcherioz, die seit 2010 vom Talort Frachey aus mit einer Standseilbahn zu erreichen ist. Nachdem ich einen Blick auf diese Neuerung geworfen hatte, wanderten wir auf der Strasse weiter talwärts Richtung St-Jacques, bis ein Schild auf den Fahrweg in Richtung Resy verwies. Der letzte Streckenabschnitt vor Resy ist als Bergweg erhalten.

Der von Walsern angelegte Weiler war bis um 1920 Dauersiedlung. Auch Resy ist heute ans Verkehrsnetz angeschlossen. Der Ort liegt am Weg zur Bettaforca (2672 m ü.M.), einem alten und wichtigen Übergang ins obere Gressoneytal.

Wann die kleine Walsergemeinde im oberen Val d’Ayas sprachlich in der romanischen Nachbarschaft aufgegangen ist, lässt sich nicht ermitteln. Noch im 16./17. Jahrhundert betätigten sich viele Männer aus dem «Teutsch Ayazertal» als Säumer ins Wallis, andere verdienten ihr Geld als Wanderhändler. Wieder andere züchteten Maultiere, die sie verkauften. Im 19. Jahrhundert spielte die saisonale Auswanderung eine wichtige Rolle. Die Emigranten arbeiteten in der Schweiz oder in Frankreich, später richteten sie sich auf das Piemont aus und rund 300 Männer zog es nach Nordamerika Ein beliebtes Handwerk im Ayas war die Herstellung von Holzschuhen. Die sabots erinnern an Holländerschuhe. Weil die sabots in grossen Stückzahlen hergestellt und ins Ausland verkauft wurden, nahmen die Wälder zusehends Schaden, was  Pfarrer Auguste Clos 1889 zu Feststellung bewog: «Bald werden sie alle ihre Wälder zerstört haben.» Doch es kam anders. Das Val d’Ayas verfügt heute über einen ansehnlichen Waldbestand. Es ist heute eine der Tourismusdestinationen im mehrere Täler umfassenden Verbund «Monte Rosa-Ski».

Erstaunlich ist, dass im Ortsdialekt von St-Jacques noch anfangs der 1980er Jahre deutsche Wörter geläufig waren. Falls diese nicht der Geheimsprache der romanischen Aostataler angehörten, müssen sie walserischen Ursprungs gewesen sein. Lo bruedo war der Bruder, lo kranko der Kranke, l’on der Hund und schlofa hiess schlafen.

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Vom Val d'Ayas zum Theodulpass

Man kann von Resy – ohne nach St-Jacques absteigen zu müssen – zu den Cime Bianche gelangen. Der Weg führt dann in Fiery beim ehemaligen «Albergo Bella Vista» vorbei. Hier verkehrte die Königin Margherita, bevor sie ihr Herz für Gressoney entdeckte. Auch italienischen Schriftsteller, darunter Guido Gozzano und Edmondo de Amicis, aber auch der Dirigent Arturo Toscanini weilten hier. Ganz in der Nähe liegt das einst walserische Vasé, heute nur mehr ein Sommerdörfchen, das mit schweizerdeutschem Wasen gleichzusetzen ist und ‹grasbewachsene Erdfläche, Rasen› bedeutet. 

Dr. Max Waibel, August, 2012

Fotoquellen: alle Farbfotos stammen vom Autoren

Empfohlene Literatur zum Thema

  • Carità, Enrico: Alla scoperta della Val d’Ayas, Ivrea, 1994
  • Crosa Lenz, Paolo u. Giulio Frangioni: Macugnaga Monte Rosa, Domodossola, 2004
  • Cugnetto, Carlo: Alla scoperta della Valle del Lys, Ivrea 1998
  • Der Grosse Walserweg, Wabern-Bern/Zürich, 1989
  • Nanzer, Remo: Tour Monte Rosa, Visp, 2001
  • Tour Monte Rosa, Wanderkarte 1 : 50’000
  • Valsesia, Teresio: Tour Monte Rosa – Cervino, Verbania, 2007
  • Waibel, Max: Das Walser Wanderbuch. Frauenfeld 2004
  • Zinsli, Paul: Cunéaz und andere entschwundene Walserkolonien am Südhang der Alpen. In: Sprachspuren (1998) S. 87–111
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