Sprache

10 Thesen zum Walliserdeutschen

Eduard Imhof

Zur Mund- und Handhabung der "Schlächttjtsch"- Texte muss ich unbedingt noch Erläuterndes nachschicken. Wenn ich solche Texte schreibe, fehlen mir auf der Computer-Tastatur etliche Buchstaben. Wenn ich sie lese, stellt sich erneut ein Problem. Die mit nicht ganz richtigen Buch­staben geschriebenen Wörter muss ich nun wie­der, mir in den Mund passend, mundartig, lesen können. Nach jahrelangem Dialektschreiben habe ich mir ein Schriftbild entworfen, das es mir ermöglicht, das Geschriebene auf Anhieb richtig zu mundhaben. Da Mundart an und für sich kei­ne Schriftsprache ist, nehme ich mir die Freiheit, sie – ohne Berücksichtigung vorliegender Allge­meinregulierungen, zu Papier zu bringen. So ver­füge ich beispielsweise über drei i-Sorten: "Ich bi bitte z Brig gsi" schreibe ich so: "Ich bi hjtte z Brjgg gsii. '

  • i = stimmloses, fast guttulares i
  • j = stimmhaftes, kurzes i
  • ii = gedehntes, stimmhaftes i

Bei solcher i-Ausstattung weiss ich sofort, wie das betreffende Wort zu artikulieren ist. Bei Verben, die alle mit einem abgeflachten Vokal auslauten, muss ich mich für einen Vokal entscheiden, der meinem „Grängjertjtsch" am nächsten kommt. Für "singen" schreibe ich "singe", je nach Ober­walliser-Ansässigkeit würden die Gommer "sin­gä", einzelne Sonnenseiter„singo", weiter rotten-abwärts Wohnende "singu" schreiben müssen.

Woraus manche "Dialektiker" den Schluss zo­gen, es gäbe gar kein "Wallisertjtsch", es gäbe nur Ortsdialekte. An seiner Sprechweise erkenne ich aber den Walliser im Radio oder am Fernse­hen subito,mag er nun ein Saaser, ein Zermat­ter, ein Simpeler, es Leetschi oder ein Gommer sein, woraus ich dann wieder schliesse: "O doch, zumindest im Oberbegriff müssen wir "walli­sertjtsch" führen." Genug der Fachsimpeleil

Vor 12 Jahren habe ich im WB einen geradezu leidenschaftlichen Artikel zur Lage der Nation geschrieben, insofern die Lage unseren Dialekt betraf. Ein Vorspann fiel mit der Türe knall ins Haus: Letzte Gegenwehr vor ihrem Verfall. Da ich die unter dem Titel Ds Schlächttjtscha: inschi Schpraach entwickelten Thesen von Jahr zu Jahr noch notwendiger finde, zähle ich sie hier, zur Stützung des Gedächnisses noch einmal auf.

"Wenn ich mir das so anhören muss: Im innru Vischpertal cha ds RRO hjttu njt empfangu wär­du: oder Schiff wird hjttu njnzig jährig oder di Schtrassä sind hjttu nass... oder ein Interwiew­ter sagt Wje vili Lecher sind giborrut wordu, fr dass dr Felsu het chennu gschpängt wärdu: dann leuchten in meiner Dialektstube alle Alarmlam­pen rot auf und der Ohnmachtspegel, da noch et­was flicken zu können, steigt ins Hoffnungslose. Trotzdem will ich mich nicht ohne Gegenwehr zur letzten Ruhe hinbetten lassen. In ein paar leicht verständlichen und leicht anwendbaren Thesen möchte ich den in unserer Muttersprache sich Ausdrückenden noch etwas Unterstützung geben, vorletzte Ölung spenden.

1. These: Wenn ein Reporter sagt, richtiges Schlächttjtsch sei das, das er so von der Strasse weg parliere, dann habe ich für ihn kein Heil vermittelndes Gegenargument.

Natürlich kann der Jungreporter sich nicht mehr ausdrücken wie sein Grossvater. Die Sprache ist im Fluss. Der Fluss lässt sich nicht hemmen in seinem Fliessen. Frage einzig: sollen wir darob das Urmuster unserer Umgangssprache auch so mir nichts dir nichts flussab treiben lassen und mit dem Reklame-Alpenöhi Steiner ins ausser-schweizerisch, ja interkontinental Coole und Co­ca-Colige abwässern lassen? Dazu bin ich nicht willens. Ich mache mir Sorgen, wenn eine Mode­ratorenstimme die englischen Songs und Singels und Hits radiophoner hinkriegt als die zu Hause gesprochene Muttersprache.

2. These: Es gibt kein einheitliches Wallisertjtsch. Es gibt unzählige Tal-und Ortsdialekte.

Altbekannte Auffälligkeit: Gommer, Saaser, Löt­scher, Briger, Natischer, Visper, Leuker, Badner reden nicht die gleiche Sprache. Ein Grängjer­ä, ein Brigerberger-e, ein Reckinger-ch, ein Fieschertaler-u, eine Munder-Fermate, einen Randäjer-Nasal, den Zermatter-Singsang, ein Ste­ger-"gigangu" kann nur ein Dortgeborener rich­tig hinkriegen. Deshalb lässt sich über Sprach­melodie und Sprechrhythmus nichts allgemein Verbindliches diktieren. Jeder rede, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, so unangepasst wie nur möglich. Das passt in die zertälerte, zerklüftete Walliser Landschaft.

3. These: Schlächttjtsch ist eine eigenmächtige Sprache. Man darf sie nicht vom Schriftdeut­schen ableiten.

Jeder Tal- und Dorfdialekt verfügt über eine eige­ne Sprach- und Bildmächtigkeit. Er erzeugt die unverwechselbaren Höhen, Tiefen, Laute, Bilder, Rhythmen, Melodien. Er ist von Haus aus öko­rein. Erst das Einfügen artfremder, genveränderter Wörter und Wendungen zerstört seinen Charakter. Schlimmes widerfährt ihm, wenn er sich aus der geschriebenen Hochsprache ableitet. Dann stimmt Wort- und Satzbau sofort nicht mehr, und er passt dann den Einheimischen nicht mehr ins Ohr. Es klingt dann alles — ohne die richtige Ko­loratur — wie Wortwurstsalat im Bahnhofbuffet Olten. Wer befiehlt dir dann noch: "Gang-a gatt gaa Brot rejche"-? "Brot hole": was jsch ou des?

4. These: Was für alle Oberwalliser Dialekte gilt: Passiv und Futurum gibt es nicht!

In der Mundart, in der wir uns hierzulande aus­drücken, gibt es seit Menschengedenken keinen Satz, den man ins Futurum kleiden oder ins Pas­siv stürzen dürfte. Gegen diese allerwichtigste Regel verstossen hiesige Moderationen, Reporta­gen, Nachrichten, Interwiews, Trailers und Politi­kerreden so oft, dass ein Mehr davon kaum noch möglich ist. Praktische Beispiele: Falsch: Schii wärdent de schoo appas unnernä. Richtig: Dii machent de schoo appes. — Also man hängt dem Präses ein de an: Ich chumme de, ich mache de, wjer lotzi de. Oder man operiert mit tiie: Ich tüe me s de säge, ich tüe me s de z Si legge. Ande­re Variante mit welle: das well wr dem Pirschtli schoo vertriibe.

Nun zum Passiv. Das Passiv muss dem Hoch­deutschen vorbehalten bleiben. In unserm Dia­lekt wirkt das Passiv zerstörerisch. Es entcharak­terisiert unsere Mundart bis zur Unkenntlichkeit. Wer das Passiv braucht, begeht eineTodsünde ge­gen unsere Landessprache. Praktische Beispiele: Falsch: Und düe jscht dr Felse gschprengt worde. Richtig: Und düe hejnt sch dr Felse gschprengt.

Falsch: Dr Vermisste jscht hjtte m morget tot gfundu wordu. Richtig: Dr Vermisste hejnt sch hjtte m morget totä gfunne. Also: Die schriftdeut­sche Passivform wird schlächttjtsch mit der einfa­chen Perfektform gegeben, oder man kann auch mit "cho" operieren. Falsch: Dr Presidänt jscht nimmä gwäält wordu. Richtig: Dr Presidänt jscht nimmä gwäältä cho.

5. These: In unserer Oberwalliser Mundart stimmt das dem Nomen nachgestellte Adjektiv (das prädikative Ajektiv) in Zahl und Geschlecht mit dem Nomen überein.

Steht das Ajektiv vor dem Nomen, dann be­kommt es automatisch die richtige Endung: E scheenä Ma, e hjbschi Fröüw, es unäärtigs Jün­gi. – Steht das Adjektiv aber nach dem Nomen stimmt es – im Gegensatz zur Hochsprache – mit dem Nomen überein.

Hochdeutsch: Der Mann ist flink, die Frau ist flink, das Kind ist flink.

Mundart: Dr Ma jscht fljnggä, d Froüw jscht fljng­gi, ds Chind fischt fljnggs.

Hochdeutsch: Ein Karren voll Äpfel, eine Pfeife voll Tabak, ein Haus voll Kinder

Mundart: E Charre vollä Epfel, en Pfiiffa volli Tu­bak, es Hüss volls Chind.

*** Im Gratulationssätzchen: "Schii wird hjttu njnzg jäärig" verstecken sich gleich zwei Fehler. Es müsste richtig heissen: Schii chunnt hjttu njnzg jäärigi.

6. These: Satzstellung und Sprachductus schrei­en in unserm Dialekt danach, dass das jeweilige Referat schlächttjtsch gedacht und unbedingt schlächtttjtsch zu Papiergebracht werden muss.

Was ungezinkt schlächttjtsch ans Ohr der Ra­dio- oder Konferenzzuhörerschaft gelangen soll, dass muss entweder papierfrei (auswendig) vorgetragen werden oder auf dem Vortragspa­pier schächttjtsch abgefasst sein. Eine geradezu lächerliche Methode besteht darin, dass der im Schriftdeutschen etwas unbewanderte Texter mit viel Mühe einen hochdeutschen Text in den Computer tätscht, mit diesem ans Radio oder ans Rednerpult geht, um ihn dort mit noch viel grös­serer Mühe am Mikrophon wieder in den Dialekt zurückzuübersetzen.

Wie schwierig es am Anfang auch erscheint, man muss seinen Dialektauftritt schlächttjtsch vorfin­den. Alles andere wird in der Hitze des Gefechtes "d rejnschtisch Chuchjsuppa".

Abschreckendes Beispiel: Auf meinem Manus steht "Da sprangen die Knaben hinaus auf die Frühlingswiese und pflückten Gras für ihre Ka­ninchen". Das soll ich nun mundartig von mir geben.

"Da sind di Knabe uff d Frühlingswiisa gschprun­ge fr de Kaninche Gras gaa z pflücke." Und das soll nun „wallisertjtsch" sein?!

7. These: Schriftdeutsches viel gescheiter hoch­deutsch vom Blatt lesen als Handgelenk mal Pi in hundsmiserablen Dialekt umverfrachten.

Es sei deshalb allen Redaktoren und Moderato­rinnen, die schriftdeutsch verfasste Nachrichten und Wetterprognosen schlächttjtsch hauslie­fern wollen, zu bedenken gegeben, dass nichts Schriftdeutsches dadurch zur Mundart wird, in­dem man es nur gerade – bei gleicher Satzstel­lung– auf eine frische Zeile rollt und mit Dialekt­farbe noch etwas angestrichen dem Mikrophon zumutet. – Ist die nötige Zeit zur totalen Um­strukturierung einer hochdeutschen Nachricht nicht vorhanden, dann diese um aller 14 Not­helfer willen und aller vier Eisheiligen und um der Planta-Kathrj willen hochdeutsch vorlesen, damit nicht auch noch das Mikrophon nach dem ersten Punkt schon ins Komma fällt!

8. These: Dem Mundart-"Dichter"steht eine un­verbrauchte Welt, stehen einzigartige Bilder zur Verfügung, die der Kreativität freie Zügel lassen.

Der Urknall steht noch bevor.

Wohin du blickst und denkst: lauter Rohmaterial. Du bist "lieber Gott" und Robinson zugleich. Kannst dir alles selbst erschaffen und modeln, aneinanderreihen und benennen. Kaum ein Bild, nicht ein einziger Satz ist vor dir schon durch Goethe oder Rilke gegangen. Du bist der Erste, dem das so in den Sinn kam, der das so zusam­menstiefelte! Das macht munter.

9. These: Die Bezeichnung "schlächttjtsch" hat mit "schlächt" als qualitativ miserabel nicht das Geringste zu tun.

Es ist nicht das Deutsch dritter Qualität. "Schlächt" enstammt der Wurzel "schlicht". Schlichtdeutsch ist einfach, unverbildet, aus dem Mund des Volkes kommend. Es ist wesentlich nicht Schriftdeutsch, dem Duden hörig und dem Siebs. Schlichtdeutsch ist zuallererst Mundart, also nicht zur Niederschrift geeignet. Schriftspra­che wird zuerst ersonnen und dann erst zu Papier gebracht. Schlichtdeutsch ist noch zungenwarm, hirnfrisch, hautnah am Geschehen, dem Mo­mentanen auf dem Fusse folgend. Deshalb wirkt es frisch und bunt, demnach ein Deutsch höchs­ter Qualität. Nach meinem Dafürhalten sollte man es deshalb eher auf CDs sprechen - brühwarm, atemfrisch - als "vertagt" und "verkühl­schrankt" in ein Buch einzumachen. - Allerdings liesse sich, insofern sich Schlichtdeutschkönner zu einem Verband vereinten, eine Dialektkultur auch bei uns aus dem Boden stampfen. Was im Bernischen schon lange geht, ginge sicher auch bei uns.

10. These: Die Sünde derer, die sündhaft schlecht "schlächttjtsch" reden, ist nicht in jedem Fall eine Todsünde.

Das kann ich als Beichtvater natürlich nicht schlecht abschätzen. Also, vom moralischen Standpunkt aus, sieht das so aus: Wem danach gelüstet, eine schwere Sünde zu begehen, der muss 1. gegen stehendes Gesetz (Gebot/Verbot) sich schwer verfehlen; 2. über den genügenden Wissensstand verfügen (dass es eine schwerwie­gende Sache ist); 3. freiwillig und aus purer Bos­haftigkeit das schwer Sündhafte ausführen.

Nach meinem Dafürhalten ist bei den Dialeksün­dern meist nur Punkt 1 als Vergehen anrechenbar. Punkt 2 und 3 kann man selten jemand ankrei­den. Da aber nur alle drei Punkte zusammen­gezählt eine Todsünde ergeben, kann in unserm Fall nur lässliche Sünde geortet werden. Davon ist Lossprechung komplikationslos zu erhalten.

Immerhin, gute Besserung muss auch der läss­lich Sündigende versprechen. Und an diese Besserung knüpft sich nun, nach diesem län­gern Expose, meine Zuversicht. Möchten doch alle "wallisertjtsch" Redenden nicht noch mehr unbewusste Schande über unser Land bringen und sich so "anständig" wie nur immer möglich ausdrücken... nicht nur englisch mit amerikani­schem Akzent!

Quelle:
  • Eduard Imhof: Dr Güeten Tagg-Kaländer. Visp, 2009.
VS, 18.4.2011
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