Waldnutzung

Naahrig: Beerini, Nussä, Pilza

[Nahrung: Beeren, Nüsse, Pilz]

Einen Schtreel zu haben, war zwar verboten

Das Sammeln von Beeren im Wald war im vorderen Vispertal sehr verbreitet. Die Gewährs­leute nennen mit Abstand am häufigsten die Heidelbeere (Heita, Heipper), die vor allem weit oben in lichten Wäldern oder auch oberhalb der Waldgrenze geholt wurde, daneben auch Erdbeere (Ärdber), Brombeere (Breemer, Breemini), Preiselbeere (Griifle) und Himbeere (Him­per). Brombeer- und Himbeersträucher hielt man damals noch nicht im eigenen Gar­ten.

Als Sammelgefässe verwendete man Kessel, Kübel (Chibji), Korb, Tragebütte (Bränta) oder Rückenkorb (Tschiffera).  Manchmal wurden die kleineren Fünfliter-Gischirr zum Heimtragen in die grösseren Tschiffere gestellt. Berichtet wird von beachtlichen 18 Litern gesammelten Beeren pro Tag und Person, oder von 30 bis 50 Kilogramm pro Gruppe. Man sammelte in unterschiedlichen Zusammensetzungen: vielleicht am häufigsten die Mütter zusammen mit ihren Kindern, nicht selten aber auch die älteren Kinder alleine oder umgekehrt zwei, drei Frauen zusammen ohne Kinder, da konnten sie das machen, was sie wollten. Es gab aber auch Familien, in denen sich alle – also auch der Vater – am Beeren­suchen beteiligten, einfach wer gerade Zeit hatte.

Nur wenige lasen die Heidelbeeren ohne Hilfsmittel von Hand ab. Die meisten ver­wendeten einen gekauften Schtreel, Heitustreel hergestellt aus Buchenholz und mit eisernen Zähnen versehen. Zwei Zeitzeugen weisen darauf hin, dass die Nutzung des Schtreels mit der Zeit nicht mehr erlaubt war. Ein anderer betont, wie sehr das Verbot nur auf dem Papier bestand: Einen Schtreel zu haben, war zwar verboten ... aber das war ja dann gleich wie beim Chrisse.

Von einem Verkauf der gesammelten Beeren wird bloss sehr vereinzelt berichtet, etwa an einen Privatkunden oder an Touristen im Dorf. Die meisten Gewährsleute unter­streichen dagegen, dass alles für den Eigenbedarf verwendet wurde-, dabei wird allgemein betont, wie diese Selbstversorgungsgesellschaft noch kaum von der Geldwirtschaft durch­drungen war: Nein, bei uns wurde nur der Butter verkauft. Sonst war praktisch nichts.

Viele machten aus den Beeren in erster Linie Konfitüür. Nach dem ein- oder zwei­tägigen Sammeln kam man heim, machte das in einen Topf rein, kochte das ein und machte Zucker rein, dann war es fertig. In einem schlechten Beerenjahr wurde einfach weniger Konfitüre gegessen. Andere kauften etwas hinzu, mit dem Argument: Wenn man Konfi­tüür machte, brauchte man dann auch wieder Zucker. Den musste man ja auch wieder kaufen. Das kam dann fast auf das gleiche raus.

Die Heidelbeeren wurden aber auch frisch genutzt, mit ein wenig Rahm als Dessert oder auch als Heituchüocho: Man erwärmte etwas Butter oder Tierfett in der Pfanne, röstete darin das Weizenmehl, löschte es je nach Vorliebe mit Wasser oder mit Wein ab und gab die Heidelbeeren mit drei bis vier Löffel pro Pfanne hinein. Ein solcher Chüocho diente als richtige Mahlzeit, das war dann schon nahrhaft.

Weitere genannte Waldfrüchte sind Hagebutten, Hälfe, wilde Kirschen und Pflaumen (Frümini) sowie die Trauben des schwarzen Holunders. Intensiv gesammelt wurden in Visperter­minen die Hagebutten (Hälfe), die man im Dorf an Zwischenhändler verkaufen konnte.

Im selben Zusammenhang zu erwähnen sind die jungen Weisstannenspitzen, Tannuspitzukonfitüür oder Tannuspitzusiirop die man im Frühling gewann und zu Konfitüre, Melasse oder Sirup verarbeitete; ebenso die Beeren des Wachholder (Räkkolder) als Beigabe zum Sauerkraut.

Bis heute wird eine Zeitzeugin von ihrer Kollegin aufgefordert, wieder einmal Heiteuchüocho zu machen. Viele gehen die Heite heute aber nicht mehr selber sammeln, sondern kaufen sie in der Migros; demgegenüber sind oft (deutsche) Gäste zu sehen, die hier noch Beeren sammeln gehen.

Wenn der Tannenhäher nicht alle gefressen hatte

Laut Steblers Wispertaler Sonnenberge (1921) war das Zäpfebäcku, was soviel heisst wie das Aufknacken der Arvennüsschen mit den Zähnen, die beliebteste Unterhaltung der Jüngern Generation. Auch in der Erinnerung der Zeitzeugen zählten die Arvennüsschen geradezu als Delikatesse. Gewonnen wurden die Arve-Zäpfe sowohl vom Boden, als auch direkt vom Baum, wobei man sie entweder mit einem langen Stecken herab schlug oder mittels Hinaufklettern herunterholte, teilweise mit Hilfe einer Leiter. Das Klettern bis zu den Arvenwipfeln war nicht ungefährlich: Manchmal fiel einer hinunter und brach sich ein Bein. Weil sich die grössten Zäpfen an den schwierig zu erreichenden Gipfel­trieben befinden, wurde trotz gesetzlichem Verbot nicht selten gleich der gesamte Gipfel abgeschnitten. An einem Sonntag gingen oft ganze Gruppen gemeinsam zur Gewinnung der Nüsschen; man sammelte sie zudem nebenbei beim Hüten des Viehs oder beim Holz-holen. Günstig war der September, wenn der Tannenhäher nicht alle gefressen hatte; ging man dagegen Anfang August, waren sie noch nicht so weit. 

Nach der Ernte waren die Nüsschen zuerst noch ziemlich bächchig. Zum Trocknen und Nachreifen legte man die gesamten Arve-Zäpfe auf den Heustock, den Speicher oder in den Keller, damit sie bis in den Winter reif (tschellig) wurden und sich die Zapfenschuppen öffneten. Erst in diesem Zustand fielen die über hundert Nüsschen, die ein mittlerer Zapfen beinhaltet heraus oder liessen sich leicht herausklauben. Später warf man sie –etwa an einem Sonntagnachmittag oder an einem Winterabend – ins Feuer zum Rösten, machte sie mit den Zähnen auf und kaute sie, da konnte man fast nicht mehr aufhören. Es war von der Ernährung kein Dings, sicher nicht. Aber es war ein Zeitvertrieb.

Zu ergänzen ist eine weitere Information von Stebler, wonach am untern Waldrand ober­halb von Zeneggen und im Schuttgebiet der alten Bergstürze im Herbst von kleinen und grossen Kindern häufig Haselnüsse gesammelt wurden. Während zur Zeit Steblers den Arvenzäpfen so stark nachgestellt wurde, dass man Ende September selten mehr einen Zapfen auf den Bäumen findet, und die Vermehrung der Arve massiv beeinträchtigt sah, werden sie heute kaum noch genutzt.

Die meisten Leute kannten die Pilze gar nicht

Die Mehrzahl der Gewährsleute gibt an, dass die Pilze von ihnen – und im vorderen Visper­tal allgemein – nicht genutzt wurden: die meisten Leute kannten die Pilze gar nicht. Ein Zeitzeuge erinnert sich an eine Matte auf der Voralpa, wo besonders viele Bovisten wuch­sen, die man Tabakpfiffe nannte, weil sie alles verstäubten. Obschon sie als Nahrungsmit­tel gar nicht schlecht gewesen wären, habe man diese Pilze aus Unkenntnis aber nicht entsprechend verwendet, sondern bloss von der Wiese entfernt.

Dass man hier Pilze suchen ging, war die Ausnahme. Ein Zeitzeuge berichtet von den 1940er-Jahren, als gesammelte Pilze an Privatkunden verkauft wurden. Ein Anderer erzählt von seiner Familie, die Schteipilz und vor allem Eierschwämm nutzte, von denen es damals riesige Mengen gab-, die ältere Schwester und die Mutter sammelten in grösserem Stil für Haus- oder Hotelgäste, und füllten dabei innerhalb einer Stunde 5 bis 6 kg in ihre Tschiffere. Ein Dritter, der selber ein bisschen Angst vor den Pilzen hatte, berichtet von seinem sammelnden Bruder.

Heute sammeln neben einzelnen Gewährsleuten - ich gehe vielleicht alles in allem ein oder zwei Kilogramm holen - auch deren Brüder, Söhne und Schwiegertöchter. Genom­men werden jetzt auch weitere Arten vvie Blaulinge, Bovisten und Champignons. Mehrfach beklagt wird die intensive und ungeregelte Nutzung durch die auswärtigen Gäste, die kilo­weise jeden Tag holen gehen. Besonders die Eierschwämm würden schon ausgegraben, wenn sie kaum schon 2 bis 3 cm hoch sind und man nur etwas Leichtgelbes sieht; dies habe für den Wald fast schlimmere Folgen als wie man früher das Vieh in den Wald liess.

Martin Stuber / Matthias Bürgi: Hüeterbueb und Heitistähl. Traditionelle Formen der Waldnutzung in der Schweiz, 1800 bis 2000. Haupt, Herausgeber: Ruth und Herbert Uhl-Forschungsstelle für Natur- und Umweltschutz, Bristol-Stiftung, Zürich, www.bristol-stiftung.ch, Bern, 2011, S.  127 - 129

SV, 17. 4. 21014
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