Von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert
Der erste, der sich nachweislich mit den deutschen Sprachinseln in Graubünden und in Nordwestitalien beschäftigte, war der Glarner Politiker und Chronist Ägidus Tschudi. 1538 erschien in Basel seine «Uralt warhafftig Alpisch Rhetia», eine topographisch-historische Beschreibung des alten Rätiens.
Von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert
Tschudi kam darin zum Schluss, dass er auf den Sprachinseln auf die Nachkommenschaft alteingesessener deutschsprachiger Gallier gestossen sei, deren Vorfahren «lange vor der Rhetier ankunfft» in den Alpen ansässig gewesen seien. Er nannte diese Leute, die – immer nach Tschudi – den lepontischen Alpen den Namen gegeben haben, keltische Lepontier. Diese bewohnten die Gebirgstäler rund um den Gotthard.
Die in «obersten wilden höhinen» Graubündens lebenden Lepontier wurden von den zugewanderten Rätern, kaum behelligt, weil sie «die gepirg vß Germanien vnd Gallien in Italien» offen hielten. Über die deutschaprachigen Leute im Rheinwald schreibt er: «Dieselben Lepontier, yetz Rhinwalder genannt, noch hüt by tag guot heyter tütsch redend, sind vonn jren altuordren vnd harkommen nie andrer spraach gewesen.»
Tschudi nennt in der «Uralt Rhetia» fast alle deutschsprachigen Siedlungen im Einzugsgebiet des Hinter- und Vorderrheins: Rheinwald, Vals, Safien Tenna, Tschappina und Obersaxen. In der 1550 als Manuskript beendeten, aber erst 1758 gedruckten «Gallia comata» fügte er Avers hinzu. Am Südhang der Alpen machte Tschudi deutschsprachige Lepontier im hinteren Sesiatal (Alagna und Riva Valdobbia), in Pomatt, in einem Teil des Antigoriotals, in Ornavasso und in Bosco Gurin aus, die alle – «an khein tütschland niendert stossend». Am Oberlauf des Rottens sass – noch immer laut Tschudi – der lepontische Stamm der Viberi, und Lepontier hausten auch in Ursern. Der «Uralt Rhetia» lag eine von Tschudi entworfene Schweizerkarte bei, von der nur noch ein Exemplar vorhanden ist. UB Basel.
Tschudi leistete – allerdings unter völlig falschen Vorzeichen – einen wichtigen Beitrag an die Walserforschung, erwähnte er doch die meisten deutschsprachigen Siedlungen in Graubünden und Italien, die später als Walsersiedlungen erkannt wurden. Es war ihm auch nicht entgangen, dass deutsche Sprachinseln, «nemlich Ubersax – Rheinwald – Saafien – Thännen – Schopyna – Falls – und Avers, – jedes einen sonderbaren Amman und Gerichts-Zwang hat», also die Selbstverwaltung der Gemeinde kannten, ein Wesensmerkmal des später viel diskutierten Walserrechts. Tschudis Geschichtsbild blieb für mehr als 200 Jahre richtungweisend; in Europas Gelehrtenwelt fand seine Lepontier-These begeisterte Aufnahme.
Sebastian Münster, Professor für hebräische Sprache an der Universität Basel, brachte 1550 eine Neufassung seiner Weltbeschreibung «Cosmographia» von1544 heraus. Sie enthält 900 Holzschnitte und 40 Karten, darunter die älteste Walliser Karte. Mit nahezu 50 Auflagen und mehreren Übersetzungen wurde die Kosmographie eines der bedeutendsten Bücher des 16. Jahrhunderts. Erstmals sind bei Münster die Walser erwähnt: «Hinder Pretegöw seint Wallseer auf Tafaas, die sein gemeinlich in den wilden und hohen bergen und wachßt nichts bey jnen dan rüben, gras und wäld.»
Auf Tschudis Spuren wandelte auch der reformierte Historiker und Pfarrer Johannes Stumpf. In seinem Hauptwerk, der 1547 veröffentlichte «Chronik der Eidgenossenschaft», widmete er den Lepontiern ein umfangreiches Kapitel und publizierte eine Tafel mit lepontischen Siedlungen beidseits der Alpen.
Zwischen 1570 und 1573 verfasste der reformierte Bündner Pfarrer Ulrich Campell die «Raetiae Alpestris Topographica Descriptio». Diese war, da erst 1884 gedruckt , den meisten Chronisten des 17. Jahrhunderts unbekannt. Eingehend beschäftigt sich Campell mit der bisher kaum beachteten Landschaft Davos, deren Bevölkerung er nicht mehr für alteingesessene, sondern für zugewanderte Lepontier aus dem Oberwallis hält. Er publiziert den sagenhaften Davoser Bericht von der «Entdeckung» der Landschaft Davos durch 12 Jäger des Herrn von Vaz um 1270, und die historische Überlieferung von den aus dem Oberwallis herbeigeholten Kolonisten. Erstmals in der Geschichtsschreibung verwertet Campell den Davoser Erblehensbrief von 1289. Die Davoser, so sagt Campell, werden von den ebenfalls Deutsch sprechenden Churern und den nördlich der Stadt wohnenden Rheintalern, die ein feineres Deutsch sprächen, «Valliser» oder «Vallser» genannt, und ihre barbarische Sprache heisse dort «Walliser Sprach». Campell wusste auch, dass die Deutschen drüben im Montafon lepontisches Deutsch oder Walliserdeutsch sprachen.
Der reformierte Theologe und Historiker Josias Simler veröffentlichte 1574 die beiden historischen, geographischen und volkskundlichen Studien über das Wallis und die Alpen «Vallesiae descriptio» und «De alpibus commentarius» auf der Grundlage eigenen Materials und der Chroniken von Stumpf und Tschudi. Simler führt die Besiedlung von Davos zurück auf ein 1282 zwischen den Bischöfen von Sitten und Chur geschlossenes Bündnis. Um diese Zeit habe der Freiherr Donat von Vaz von den Herren zu Raron seine Kolonisten für Davos erhalten, welchen er 1289 das Tal zu ewigem Erblehen gegen einen jährlichen Grundzins in Geld überliess.
Johann Guler von Wyneck Chronist, Offizier und Landammann zu Davos, stammte aus einem Davoser Walsergeschlecht. 1616 wurde seine «Raetia : das ist außfüehrliche und wahrhaffte Beschreibung der dreyen Loblichen Grawen Bündten und anderer Retischen völcker.» gedruckt.
Als Grundlagen dienten ihm der von ihm selbst angefertigter Auszug «Ex Huldrichi Campelli Historia Rhaetica. Libri duo», d.i. Ulrich Campells zwei Bücher rätischer Geschichte, Tschudis «Uralt Rhetia» und wohl auch Simlers «Vallesiae descriptio», aus welcher er vom Bündnis zwischen den Bischöfen von Sitten und Chur im späten 13. Jahrhundert erfahren haben dürfte. Wie Tschudi, so hielt auch Guler die deutschsprachigen Lepontier für Passwächter: «So vil die Lepontier belanget: haben die selbigen die strassen uber das gebirg erhalten, und die hin und här wandrenden mit herbergen, und anderm versehen. »
Fortunat Sprecher von Bernegg, Bündner Staatsmann und Diplomat, publizierte 1672 in Chur die «Rhetische Cronica», eine mit Zusätzen und Berichtigungen versehene deutsche Bearbeitung der schon 1617 veröffentlichten «Pallas Rhaetica».
Sprecher, sonst auf Tschudis Spuren wandelnd, trat für die Besiedlung der Landschaft Davos durch Leute aus dem Rhonetal ein. Die Ansiedlung der Walliser führte er zurück auf die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Feudalherren im Wallis und in Rätien, womit er ein neues und wichtiges Moment ins Spiel brachte: «Diese Walliser waren ihm [Walter IV. von Vaz] zweifellos vom Freiherrn von Raron zugeschickt worden, der sein Blutsverwandter und bester Freund war.»
1742 verfasste der Pfarrer von Seewis, Nicolin Sererhard die «Einfalte Delineation aller Gemeinden gemeiner dreien Bünden», ein phantasievolles, doch an historischen und volkskundlichen Quellen reiches Werk. Die Bewohner der deutschsprachigen Hochtäler Rätiens hielt er durchwegs für zugezogene Leute aus dem Oberwallis, deren Einwanderung er allerdings schon auf die Zeit vor Christi Geburt legte. Sererhard liefert eine erste Charakterisierung der Walser Sprache: «Wann ich von Lepontisch teutsch etwas melde, verstehe ich einen solchen Dialekt der teutschen Sprach, der etwas Singulieres in sich hat, da die Redenden dem End der Expression ihrer Wörter oder Silben ein curieuses Züglein oder Trüklein geben, und sich darmit von allen andern Teutschen um etwas distinguieren... Dieses lepontische Teutsch wird nirgends geredt, als im obern Walliser Land und in etwelchen höchsten Wildnussen unsers Lands. Ihre Pronuntiation lautet just wie der Ober-Wallisern ihrer uralten Stammvättern. »
Für italienische Walsergebiete sind die Aufzeichnungen von Abgesandten des Staates und Visitationsberichte geistlicher Würdenträger sehr aufschlussreich. Letztere geben Beobachtungen aus dem religiösen Leben wieder, und zielen – häufig allerdings vergeblich – auf die Behebung von Missständen ab und beleuchten den Alltag.
Ein Beispiel:
Zur Blütezeit des Transitverkehrs über den Griespass war Pomatt ein beliebter Stapel- und Marktplatz. Zum Ärger der Geistlichkeit waren die Säumer auch am Sonntag unterwegs. Sie brachten am Samstagabend Wein ins Pomatt und reisten am Sonntagmorgen wieder aus dem Tal, wobei sie mit ihren Tieren – vor allem im Winter bei hohem Schnee – Kirchgänger gefährdeten. 1627 liess der Bischof Giovan Pietro Volpi dem Pfarrer von Formazza eine Weisung zukommen, die es den Säumern verbot, an Sonn- und Feiertagen das Tal vor dem Ende der Messe zu verlassen.
1789 besuchte der Genfer Naturforscher Horace Bénédict de Saussure die Dörfer am Fusse des Monte Rosa. Seine Eindrücke hielt er fest in den «Voyages dans les Alpes», erschienen 1796. Der Gelehrte beschränkte sich nicht auf die Wiedergabe seiner Naturbeobachtungen. Er schildert auch Sitten und Bräuche der deutschsprachigen Bevölkerung, die er für aus dem Oberwallis eingewandert hält.
Zusammenfassung
Ende des 18. Jahrhunderts waren die grösseren Siedlungen in Graubünden und Italien bekannt, in denen «lepontisches Deutsch», d. h. Walserdeutsch, gesprochen wurde. Ungeklärt blieb die Frage nach dem Herkommen der deutschen Sprachinselbewohner in Graubünden, denen man gerne die Rolle als Passwächter zuwies. Während Tschudi sie alle für alteingesessen hielt, galten in der Geschichtsschreibung seit Campell die Davoser als Einwanderer aus dem Oberwallis. Sererhard führt die Herkunft aller, die in Graubünden «lepontisch Teutsch» sprachen, auf das Oberwallis zurück. Auch war schon erkannt worden, dass hinter der Einwanderung von Oberwallisern nach Graubünden weltliche und kirchliche Dynasten standen, und dass verschiedene deutsche Sprachinseln ein eigenes Recht hatten.
Wer? | Wo publiziert? | Kernaussage | Quelle | Bemerkung |
Chronist Ägidus Tschudi |
1538 erschien in Basel seine «Uralt warhafftig Alpisch Rhetia», | Tschudi kam darin zum Schluss, dass er auf den Sprachinseln auf die Nachkommenschaft alteingesessener deutschsprachiger Gallier gestossen sei, deren Vorfahren «lange vor der Rhetier ankunfft» in den Alpen ansässig gewesen seien. Er nannte diese Leute, die ? immer nach Tschudi ? den lepontischen Alpen den Namen gegeben haben, keltische Lepontier. Diese bewohnten die Gebirgstäler rund um den Gotthard. |
Max Waibel Vortrag |